DIE BEGEGNUNG VON REGENSCHIRM UND NÄHMASCHINE AUF DEM SEZIERTISCH
HOLGER LUND

Kaum ein Kunstverfahren, Kunstprodukt und Denkmodell hat die Kunst des 20. Jahrhunderts derart bestimmt wie die Collage. Der Text verfolgt die Entwicklung der Collage, vor allem anhand der Holzstichcollagen von Max Ernst. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst werden mit diesen Collagen Werke produziert, welche ausschließlich aus vorgefundenem Material bestehen und die Selektion sowie die Kombination von vorgefundenem Material zur ästhetischen Praxis erheben. Damit gewinnt die Collage ihre ästhetische Brisanz, die schließlich in der Collage als „perfektem Verbrechen“ (Werner Spies) mündet.
Ein kurzer Ausblick auf aktuelle digitale Künste soll zudem zeigen, wie heute bei Sampling, Mixing, Remixing und Mash-Up auf Max Ernsts Collageprinzip aufgebaut wird.

Bereits die frühen Collagenbücher (1922) [1] und mehr noch seine drei Collagenromane (1929-1934) [2] betreiben das Verschwinden des Originals in der Kunst. Doch nicht nur das. Was gleichfalls verschwindet, ist der herkömmliche künstlerische Prozess zur Herstellung eines Originals. Das Original und die mit ihm verbundenen künstlerischen Werte werden mit den Holzstichcollagen von Max Ernst gleichsam zerrieben in der Differenz von geklebter Collagenmaquette, also der Druckvorlage und der gedruckten Collage im Buch. Denn durch die fotomechanische Reproduktion der Druckvorlage für den Buchdruck verändert sich die geklebte Collage grundlegend: die unterschiedliche Farbigkeit der collagierten Papiere, ihre Schnittstellen, die Schichtung der Papiere – von all dem ist bei der gedruckten Collage nichts mehr zu sehen. Die Tatsache des Collagiertseins selbst wird damit unsichtbar, so dass Werner Spies zu Recht von der Collage als „perfektem Verbrechen“ spricht.

Bevor die Folgen dieser Entwicklung in den Blick genommen werden, soll zunächst das, was eine Collage kennzeichnet, sowie Max Ernsts Umgang mit der Gattung Collage näher bestimmt werden.

Die Erfüllung dreier Eigenschaften entscheidet über die Zu-gehörigkeit eines bildlichen oder literarischen Kunstwerks zur Gattung ‘Collage’: (a) Das Material einer Collage muss bereits vor der Erstellung derselben vorhanden sein, also vorgefunden sein, (b) die Collage wird durch Zusammenfügen des Materials her-gestellt und erzeugt (c) den Eindruck von Disparatheit [3].
Zu spezifizieren sind die drei Eigenschaften folgendermaßen:

(a) Das Collagenmaterial muss vorgefunden sein – ganz oder teilweise, auf jeden Fall aber überwiegend [4]. In der Regel handelt es sich bei dem vorgefundenen Material um solches unterschied-licher Herkunft.

(b) Die Collage wird durch Zusammenfügen des Materials her-gestellt – materiell und/oder semantisch. Bindemittel der bild-lichen Collage ist vorzugsweise die im Wort enthaltene ‘colle’, der Klebstoff. Mit dieser handwerklichen Definition der Collage als Klebebild ist noch eine weitere Eigenschaft verbunden, nämlich das Hervorkehren des Zusammengefügtseins. Dieses bleibt in den meisten Fällen unmittelbar ersichtlich, besonders wenn es sich um unterschiedliche Materialien handelt. Aber auch bei einheitlichem Material bleibt es unmittelbar ersichtlich, weil der Klebstoff die Fugen kaum vollständig kaschiert und somit die Eigenschaft des Zusammengefügtseins nicht verbirgt. Durch bestimmte Verfahren (etwa Reproduktion) kann jedoch auch der Fall eintreten, dass die Eigenschaft des Zusammengefügtseins verdeckt wird, wie etwa bei den gedruckten Collagen der Collagenromane von Max Ernst. Unmittelbar ersichtlich bleibt dann nur die Tatsache, dass hier semantisch unterschiedliche Elemente zusammengefügt sind. Zu sprechen wäre in diesem Fall von semantischen Collagen.

(c) Die Collage erzeugt den Eindruck von Disparatheit – materiell und/oder semantisch. Viele Collagen erzeugen den Eindruck von materieller Disparatheit, weil ihr Material tatsächlich aus verschiedenen Bereichen stammt. Als Musterfälle seien die Materialcol-lagen Schwitters erwähnt. Bei ihnen zählen vorrangig ästhetische Werte wie Form- und Farbwerte, plastische Werte und Texturwerte, die mit den unterschiedlichen Materialien verknüpft sind. Es gibt aber auch Collagen, wie jene der Collagenromane von Max Ernst, die zur Gänze aus dem gleichen Material (Holzstiche) bestehen, also materiell einheitlich sind, aber dennoch den Eindruck von Disparatheit erzeugen - und zwar semantischer Disparatheit. Die solcherart beschaffene Collage wäre dann als semantische Collage zu bezeichnen (vgl. b).
Die semantische Collage entwickelt Max Ernst mit seiner Poetik der Collage, die auf der surrealistischen Poetik der Kombination von Disparatem aufbaut: Collage, so Max Ernst, sei ein „accouplement de deux réalités en apparence inaccoupables sur un plan qui en apparence ne leur convient pas.“ [5] Daraus resultiert der Effekt des semantisch Disparaten und - scheinbar [6] - Irrationalen: „Qui dit collage, dit l’irrationel.“ [7]

Wie die Collagen von Max Ernst sich zur Tradition der kubistischen Collage, die Picasso und Braque entwickelten, verhalten, wie sie Aspekte der Gattung verstärken, verschieben oder auflösen, soll im Folgenden dargestellt werden.

Dreh- und Angelpunkt sind dabei die Collagen von Max Ernst, die er 1922 in zwei schmalen Bändchen als visuelle Begleitung zu Texten des Dichters Paul Eluard verwendet hat. Sie enthalten die entscheidenden Innovationen gegenüber der Gattungstradition, die dann mit den Collagen der Collagenromane ausgearbeitet und ausgebaut werden.
Doch schon jene Collagen, die Max Ernst von 1919 bis 1922 fertigte, enthalten wichtige Innovationen, die mit den Collagen zu Eluards Texten fortgeführt worden sind.
Von zentraler Bedeutung bei den ersten Collagen Max Ernsts ist der Statuswechsel des Materials. Bei den kubistischen Collagen erfüllen die in das Bild hinein gefügten Fremdelemente vorrangig eine Ersatzfunktion: An die Stelle der gemalten Tapete beispielsweise tritt die ins Bild geklebte Tapete. Bei den Collagen Max Ernsts hingegen zählt vorrangig die metaphorische Bedeutung der in das Bild hinein gefügten Elemente, welche diese durch das bildliche Umfeld erlangen. Bei der Photocollage Audessus des nuages marche la minuit... wird beispielsweise die gewickelte Schnur zur Metapher für den Oberkörper und die darüber befindliche Spitzenarbeit zur Metapher für den Kopf samt Bart.

Zugegeben: auch die Kubisten verleihen bereits gelegentlich Fremdelementen eine metaphorische Funktion. So etwa Juan Gris in seiner Collage “Das Schachbrett”, in welcher die eingeklebte, Holz imitierende, Tapete Ersatzfunktion hat, also Tapete darstellen soll, zugleich aber auch, bedingt durch das bildliche Umfeld und den Holzimitatcharakter, als Metapher für einen Tisch angesehen werden kann.

Dennoch sind solche metaphorischen Funktionen bei den Kubisten grundsätzlich anders geartet. Denn die metaphorische Umsemantisierung der Fremdelemente wie auch diese selbst bleiben im gleichen übergreifenden und doch engen Sachbereich – im Falle des Bildes von Gris ist es der Sachbereich ‘Café-Bar’. Die Einheitlichkeit des Sachbereichs bleibt somit gewahrt, wohin-gegen in den frühen Collagen Max Ernsts sehr oft verschiedene Sachbereiche kombiniert werden (im Falle der erwähnten Photocollage: ‘Haushalt’ und ‘Wolkensphäre’). Das semantisch einheitliche Feld, das die kubistischen Collagen eröffnen, indem alle ihre Elemente in einem Verhältnis der Kontiguität zueinander stehen, weicht mit den Collagen Max Ernsts einer semantischen Konstruktion, die auf Disparatheit der Elemente im Verhältnis zueinander beruht. Hier beginnt die Entwicklung hin zur semantischen Collage.

Alle wichtigen Innovationen, die mit den Collagen der Eluard-Bücher einsetzen, sind gekoppelt an die Veränderungen im Materialbereich (Wahl von Holzstichen als Material) und bei der Herstellung der Collagen (Einschieben eines weiteren Herstellungsschrittes: die fotomechanische Reproduktion der geklebten Collagen für den Buchdruck).
Entscheidend ist dabei nicht allein die Hinwendung zu einem historischen Material, das in Stil, Technik und Ästhetik in den 1920er Jahren bereits antiquiert wirkte und wodurch sich die Col-lagen der Eluard-Bücher fundamental von jenen der Kubisten und Dadaisten unterscheiden, die zeitgenössisches Material verwenden. Entscheidend ist vielmehr die ausschließliche Verwendung von Holzstichen. Dadurch entsteht eine materielle Einheitlichkeit, wie sie zuvor bei Collagen niemals der Fall gewesen ist, im Gegenteil: materielle Disparatheit gehörte zu den Haupteigenschaften aller vorgängigen Collagen. Und: Zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst werden auf diese Weise Werke produziert, die ausschließlich aus vorgefundenem Material bestehen und die Kombination von vorgefundenem Material zur ästhetischen Praxis erheben [8]. Dieses konstruktive Prinzip bereitet jenes, üblicherweise als ‘postmodern’ bezeichnetes vor, das beispielsweise seit Ende der 80er Jahre mit der Sampling-Culture und dem DJing in der Musik an Boden gewonnen hat.
Mit der Wahl von Holzstichen als ausschließlichem Collagen-material entwickelt Max Ernst nicht nur eine materielle, sondern auch eine stilistische Einheitlichkeit (realistischer Stil). So entsteht ein Realismus in der Darstellung, der bruchlos ist. Max Ernst steigert den realistischen Effekt zudem durch Reperspektivierung:
während die herkömmlichen Collagen den kubistischen Bruch mit der Zentralperspektive fortführen, setzt Max Ernst diese wieder, zumeist sogar ohne Störungen, in ihre alten Rechte ein.
Nochmals gesteigert wird die Bruchlosigkeit des Realismus durch die Reproduktion der Collagen. Dabei verschwinden die Nähte des Zusammenfügens, die Unterschiede des Papiers und die Schichtung desselben, so dass die Illusion eines einzigen, genuinen Bildes entsteht. Hierin liegt die wichtigste Innovation, denn diese Collagen sind nicht mehr als solche zu erkennen. Das materielle Zusammengefügtsein und die Verwendung vorgefundenen Materials werden zur Gänze ausgeblendet und sind nicht mehr ersichtlich. Die Entwicklung von der Materialcollage zur – scheinbar – rein semantischen Collage ist abgeschlossen. Der herkömmliche Begriff der Collage wird dabei offensichtlich aufgelöst, denn der Effekt des Organischen, wie er nun von Material und Stil erzeugt wird, widerspricht der Idee der kubistischen Collage, die diesen Effekt um jeden Preis zu vermeiden trachtet.

Eine weitere Folge der Materialwahl Max Ernsts besteht in der Verschiebung der semantischen Konstruktion der Collage. Brachten seine Collagen vor 1922 in ihrer semantischen Konstruktion bereits eine Verschiebung gegenüber den kubistischen Collagen (von der Ersatzfunktion zur metaphorischen Funktion der Fremd-elemente), so liegt nun erneut eine Verschiebung vor: durch die ausschließliche Verwendung von Holzstichen gibt es keine materiellen Fremdelemente mehr, die umsemantisiert werden könnten. Das heißt, die Grundelemente der Collage metaphorisieren nicht mehr die Fremdelemente, sondern sämtliche Elemente wirken schlicht nur noch entweder wunderbar oder glaubwürdig in ihrer Kombination, oder sie bekommen durch dieselbe eine sym-bolische Bedeutung. Die semantische Konstruktion der Collage wird dadurch entschieden weniger komplex hinsichtlich des Verhältnisses von Grund- und Fremdelementen. Dieses Verhältnis ist eigentlich aufgelöst, da es nur noch Fremdmaterial (geklebte Collage) oder scheinbares Grundmaterial (gedruckte Collage) gibt. Es gewinnt aber, wegen der Kombination semantisch disparater Elemente ebenso entschieden an Komplexität innerhalb des homogenen Materials. Darin liegt die Verschiebung in der semantischen Konstruktion der Collage.

Die Collagen der Eluard-Bücher verschieben jedoch nicht nur Eigenschaften der Gattung ‘Collage’. Sie verstärken auch Aspekte der Gattung, zum Beispiel jenen der Auseinandersetzung zwischen Collage und Malerei.
Von Anfang an, seit den kubistischen Collagen also, kommt mit dem vorgefundenen Material etwas der Malerei Fremdes in die gemalten Bilder hinein. Damit wird an Grundwerten der Malerei, wie touche, peinture und Originalstatus, gerüttelt. Collage erschien von Anfang an, hierin lag ihre Schlagkraft, als Negation der traditionellen Malerei, insbesondere jener sich im 19. Jahrhundert ausprägenden impressionistischen Malerei, die touche und peinture betont. Immer mehr verdrängt dann der verstärkte Einsatz vorgefundenen Materials die traditionellen künstlerischen Techniken, stellt sie in Frage, bis das Rütteln an den Grundwerten der traditionellen Malerei schließlich zum Einsturz derselben führt. Schon bei Dadaisten wie Schwitters verliert die Handarbeit des Künstlers an Bedeutung, verlieren Pinsel, Farbe und Leinwand bei den Collagen ihren Vorrang, den sie bei den Kubisten noch besitzen.

Materiell und technisch wird der Endpunkt der Opposition zur Malerei mit den Collagen der Eluard-Bücher erreicht, da hier ausschließlich mit vorgefundenem Material gearbeitet wird und die Collagen nur aus Reproduktionsgraphik (Holzstichen) bestehen, ja sogar selbst durch Reproduktion (gedruckte Collage) hergestellt werden. An diesem Punkt ist das „Au-déla de la peinture“ [9], das Max Ernst anstrebt, erreicht: Weiter lässt sich der Kampf gegen touche, peinture und Original nicht treiben. Das gilt auch für den Kampf gegen die traditionelle Rolle des Künstlers. An die Stelle des „Märchens vom Schöpfertum des Künstlers“ [10], wie Max Ernst es einmal formulierte, tritt die „personnalité du choix“ [11] und, so möchte man ergänzen, die ‘personnalité de la combinaison’.

Zur Ästhetik der Collage
Erzählen als Entfalten einer zusammenhängenden Handlung gilt den Surrealisten als Untugend [12]. Ein solches Erzählen ist für sie mit der Konvention des realistischen Erzählens verbunden, das sie ablehnen, weil sie es für rationalistisch halten [13]. Breton lobt folglich im „Avis au lecteur“, der dem Collagenroman La femme 100 têtes vorangestellt ist, die Motivierungsdefizite bei dem dar-gestellten Geschehen: „ces pages, qui témoignent d’une agitation d’autant plus extraordinaire que le prétexte de de cette agitation nous fuit“. Auch die Irritationen, die aus den Motivierungsdefiziten resultieren, wertet Breton an gleicher Stelle positiv: „ces pages [...] représentent pour nous une somme de conjectures tellement déroutantes, qu’elles sont précieuses“.
Für Max Ernst gehört die Irritation, beruhend auf dem Prinzip der Kombination von Disparatem, zu den wirkungsästhetischen Zielen der Collage:

On pourrait définir le collage comme un composé alchimique de deux ou plusieurs éléments hétérogènes, résultant de leur rapprochement inattendu, dû [...] à une volonté tendue vers la confusion systématique[...] [14]

Aus der Kombination von Disparatem ästhetische Effekte zu gewinnen, war Breton schon im ersten surrealistischen Manifest (1924) ein Hauptanliegen. Im Rahmen seiner surrealistischen Metaphernpoetik gelangt Breton zu einer positiven Wertung der Entlegenheitsmetaphorik. Je weiter dabei Bild- und Grundbereich voneinander entfernt sind, je größer die „contradiction apparente“ [15] ist, umso größer sei der poetisch-ästhetische Wert des sprachlichen Bildes [16]. Die Kombination von Disparatem dient dabei als Verfahren, um in den Bereich des Wunderbaren zu gelangen, den Breton mit dem Bereich des Schönen gleichsetzt: „le merveilleux est toujours beau“ [17].
„Alles ist erstaunlich[...]“ - so äußert sich Max Ernst über den dritten Collagenroman [18] und benennt damit einen weiteren erwünschten ästhetischen Effekt, den Überraschungseffekt. Dieser beruht auf der Kombination von Disparatem, ist jedoch nicht Selbstzweck, denn laut Aragon charakterisiert das Überraschende das Wunderbare [19].
Hierbei mündet die surrealistische Metaphernpoetik in einer Poetik des Wunderbaren.

Aktuelle digitale Künste
Die Selektion und Kombination ausschließlich vorgefundenen Materials wird mit den frühen Collagen Max Ernsts als Verfahren angewandt, das zusammen mit der fotomechanischen Reproduktion der Collagen für den Buchdruck auch die Collage als Produkt vollständig verändert. Zugleich wird damit auch die Collage als Denkmodell einer neuartigen künstlerischen Produktionsweise mit veränderter Rolle des Künstlers und seiner Vorgehensweise geliefert.
Besonders jene postmodernen Kulturtechniken und ästhetischen Produktionsweisen, die auf digitaler Basis operieren, profitieren von den Ideen Max Ernsts. Sicherlich ist die Postmoderne besonders stark an die Entwicklungen in der Architektur geknüpft.
Diese lässt übrigens allenfalls collagenartiges Bauen zu, wie bei James Stirlings Neuer Staatsgalerie in Stuttgart (1984), jedoch nicht eine wirkliche Collage, solange nicht Bauteile vorgefundener Gebäude verwendet worden sind. Auch wenn die Postmoderne also stark an architektonische Entwicklungen gebunden ist, so haben die Collageprinzipien von Max Ernst wirkmächtiger zuerst im digitalen Bereich, besonders jenem der Musik, Verwendung gefunden.
Die Debut Single der Londoner Formation Coldcut, „Say Kids What Time Is It“ (1987), war die erste Pop-Platte, die komplett auf dem Sampling-Prinzip aufbaute. Dabei wurde ausschließlich vorgefundenes Material zur Erstellung eines neuen musikalischen Werkes verwendet. Mit der Entfaltung der DJ-Kultur und des Turntablism ab den 1980er-Jahren und ihrer Aufwertung zu einer eigenständigen musikalischen Leistung mit einem eigenständigen Instrument (den Turntables) setzte sich neben dem Sampling eine neue musikästhetische Praxis durch. Sie basiert auf der ausschließlichen Verwendung vorgefundenen Materials, seiner Selektion und Kombination beim Mixing bzw. Remixing.
Im visuellen Bereich entspricht dieser Entwicklung das VJing, bei dem recht häufig Sequenzen aus bereits existierenden Filmen neu gemixt werden [20].
Aufgrund der Sampling-Kapazitäten von Computern wurde diese Entwicklung zuerst im Audio-Bereich und dann im Video-Bereich möglich und populär.
Seit wenigen Jahren sind die Rechenkapazitäten der Computer soweit gestiegen, dass neben Audio- nicht nur Video-Sampling möglich ist, sondern Realtime-Mixing und Realtime-Controlling von Audio- und Videodaten sowie audiovisuelles Sampling. Dies eröffnet die Möglichkeit des audiovisuellen Mixes bzw. Remixes, was unter der Bezeichnung Mash Up populäre ästhetische Praxis geworden ist.
Vorreiter bei der Popularisierung waren hierbei das audiovisuelle Duo Addictive TV aus London, deren Mash Ups der ersten TV-Performance der Rolling Stones oder von Spielfilmen wie „The Italien Job“ stilbildend wirkten (www.addictive.com). Kurze Filmsequenzen werden mit ihren Tonspuren genommen und gemixt, so dass ein neues audiovisuelles Produkt entsteht. Visuell und musikalisch baut es auf dem vorgefundenen Material auf, dieses wird jedoch mit allen Mitteln des Mixings wie etwa Looping, Scratching und Stretching verändert. Selektion und Kombination des vorgefundenen Materials sind, gemäß dem Collageprinzip von Max Ernst, Grundlage der Arbeitsweise. Ergänzt und erweitert wird letztere um die Deformation, welche das Mixing ermöglicht.

Bilder
1 Aus: Paul Eluard/Max Ernst, Les malheurs des immortels (1922) [img.]
2 Aus: Max Ernst, Une semaine de bonté ou Les sept éléments capitaux (1934)[img.]
3 Max Ernst, Au-dessus des nuages marche la minuit..., 1920, Küsnacht, Privat[img.]
4-6 Max Ernst, La Femme 100 Têtes (1929)[img.][img.] [img.]

[1] Eluard, Paul und Ernst, Max, Répétitions und Les malheurs des immortels, Paris, 1922
[2] Ernst, Max, La femme 100 têtes, Paris, 1929, Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au carmel Paris, 1930 und Une semaine de bonté ou Les sept éléments capitaux, Paris, 1934
[3] Vgl. Seibel, Wolfgang, Die Formenwelt der Fertigteile: künstlerische Montagetechnik und ihre Anwendung im Drama, Würzburg, 1988, S.7-114 (bes. S.80-87)
[4] Vgl. Klotz, Volker, „Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst“, in: Sprache im technischen Zeitalter, 60, Okt.-Dez. 1976, S.277
[5] Ernst, 1970, S.256
[6] Bei der soeben zitierten Collage-Definition legt Max Ernst sehr viel Wert auf die interpretatorisch zu leistende Auflösung des semantisch Disparaten, denn zweimal heißt es „en apparence“
[7] Ernst, 1970, S.264. Dadurch, dass Max Ernst die Collage ausschließlich als semantisches Phänomen, bei dem semantisch Disparates kombiniert wird, definierte, kam es in der Folge zu einer extremen Verengung des Collage-Begriffs (sämtliche anderen notwendigen Eigenschaften entfallen) und zugleich zu einer extremen Erweiterung desselben (jedes nur irgend semantische Disparatheit aufweisende Objekt wird gerne Collage genannt)
[8] vgl. Max Ernst. Collagen. Inventar und Widerspruch, Kat. der Ausst. ‘Max Ernst, die Welt der Collage’, Kunsthalle Tübingen, 17.09.1988-27.11.1988, Köln, 31988, S.21
[9] Vgl. Ernst, 1970, S.235-269. In dem gleichnamigen Aufsatz zielt Max Ernst auf eine theoretische Fundierung der Techniken künstlerischen Arbeitens, die mit jenen der traditionellen Malerei brechen
[10] Ernst, Max, „Was ist Surrealismus?“ (1934), in: Metken, Günter (Hrsg.), Als die Surrealisten noch recht hatten, Hofheim, 21983, S.323
[11] Aragon, Louis, écrits sur l’art moderne, Paris, 1981, S.35.
[12] Vgl. André Breton, „Manifeste du Surréalisme“ (1924), in: ders., Œuvre complètes, Bd.1, Paris, 1988, S.313ff; vgl. ferner: Spies, 31988, S.172, und ders., „Immer der Abweichung verdächtig. Interview von Heinz Norbert Jocks mit Werner Spies“, in: Kunstforum, Bd.115, Sept./Okt. 1991, S.395; vgl. auch S.296f.
[13] Vgl. Breton, 1988, S.313ff.
[14] Max Ernst, „Au-delà de la peinture“(1937), in: ders., Écritures, Paris, 1970, S.262. Zur Irritation als wirkungsästhetischem Ziel vgl. auch Breton, André, „Caractères de l’évolution moderne“(1923), in: ders., 1988, S.299
[15] Breton, 1988, S.338
[16] Vgl. ebd., S.337f
[17] Ebd. S.319. Vgl. auch Aragon, Louis, „La peinture au défi“(1930), in: ders., écrits sur l’art moderne, Paris, 1981, S.28.
[18] Zitat in: Brusberg, Dieter (Hrsg.), Hommage an Max Ernst. ‘Les labyrinthes ne sont pas faits pour les chiens’. Bilder und Blätter 1920 bis 1939, Kat. der Ausst. Galerie Brusberg Berlin, 25.08.-06.10.1990, Berlin, 1990, S.46
[19] Vgl. Aragon, 1981, S.31f
[20] Auf Vorläufer im Filmbereich, wie der Filmremix Rose Hobart (1936) des amerikanischen Surrealisten Jospeh Cornell, der im übrigen von Max Ernst Collagen-Ideen inspiriert worden ist, wird hier nicht näher eingegangen, da es in diesem Beitrag um populäre ästhetische Praktiken geht.