WER HATS ERFUNDEN? HACKER SPIELEN TENNIS
CLAUS PIAS

Der Kybernetiker Norbert Wiener, der während des Zweiten Weltkriegs an der vordersten High-Tech-Front gestanden und sich nach Kriegsende öffentlich von allen militärisch geförderten Forschungsprojekten distanziert hatte, konstatierte 1950 eine grundlegende Veränderung in der Logik des Erfindens. Immer wieder kommt er in seinem Buch Mensch und Menschmaschine darauf zu sprechen, daß seit Edisons größter Erfindung, nämlich dem »industrielle[n] Forschungslaboratorium, welches Erfindungen gewerbsmäßig hervorbringt«, das Erfinden nicht mehr dasselbe sei. Insbesondere die US-Forschungspolitik während des Zweiten Weltkriegs habe das Geschick des einzelnen Handwerkers durch die systematische Suche ganzer Abteilungen von Ingenieuren ersetzt. Während der Erfinder alten Typs etwas für einen einzelnen Zweck erfunden habe, erfänden die großen Industrie-Labs gleich ganze Klassen von Lösungen, die meist erst mal nur ein »Fahrschein für einen [Patent]Rechtsstreit« seien. Während Erfindungen früher auf einer unvollkommenen Kenntnis des Gegenstands gründeten, gründe das industrielle Erfinden auf einer Kombinatorik vollständig bekannter Elemente und Gesetze und dürfe darum eigentlich nicht mehr »Erfinden« heißen. Es sei dies eine Form, die »am wirkungsvollsten bei der Entwicklung bereits am Tage liegender Ideen [funktioniert] und am schlechtesten und unwirtschaftlichsten bei neuen Ideen.«
Meine schlichte These ist, daß die frühe Geschichte des Computerspiels vom alten Handwerker-Typ des Erfinders geprägt ist und erst vergleichsweise spät – wahrscheinlich mit der Standardisierung und Verbreitung von PCs in die zweite Phase übergeht. Im Folgenden soll es daher um die mehrfache Erfindung von PONG [img.] [img.] (oder Tennisspielen) gehen – nicht zuletzt deshalb, weil die technischhandwerkliche Konstruktion eines Spiels (und selbst da sind mehrere »Ursprünge« zu beobachten) allein noch nicht viel über das Computerspielen als Kulturtechnik oder über Computerspiele als Medium aussagt. Der Moment der Marktreife von Computerspielen markiert aber zugleich auch den Höhepunkt der Personal-Computing-Bewegung. Aus diesem Grund wird anschließend zu fragen sein, wann und warum man glaubte, daß wir heimische Computer brauchen und was diese mit Spielen zu tun haben.

Erstens
Die frühe Geschichte hüpfender »Bälle« ist gut erforscht. Zu ihr gehört die Bouncing Ball-Demo auf dem Whirlwind-Rechner, der graphische Interaktion in Echtzeit erlaubte, weil er die Eingaben des Users über einen Interrupt in Laufzeit abfragen und mit der graphischen Darstellung auf einem Radarbildschirm verknüpfen konnte. Zu ihr gehört William Higinbothams »Tennis for Two« (ebenfalls ein Demo), das aus Flugbahnen auf einem Oszilloskop ein analoges Bildschirmtennis machte. Und zu ihr gehört auch jene Lichterkette an einem IBM 7090, die eine Art eindimensionales Tennisspiel mit Kontrollämpchen implementierte. Mit diesem letzten Beispiel befinden wir uns nun in der Hackerkultur der 60er Jahre, in der die Geschichte beginnen soll.
1961/62 hatten einige muntere Studenten namens Dan Edwards, Alan Kotok, Peter Samson und Steve Russel aus verschiedenen Einzelteilen etwas zusammengebastelt, das ziemlich nach Computerspiel as we know it aussah. Auf einem DEC PDP-1-Rechner mit seinem als Monitor dienenden Radarbildschirm hatten sie ein Programm namens Spacewar zum Laufen gebracht. Vor astronomisch exakten Sternbildern konnten sich darin zwei Spieler an selbst gebastelten Controllern eine Weltraumschlacht liefern. Alles war da, was ein Computerspiel ausmacht: Grafik, Sound und vor allem aber ein Computer. Daß letzteres auch später gar nicht so selbstverständlich ist, wird sich gleich zeigen. Erst einmal ist festzuhalten, daß Spacewar insgesamt und in seinen Teilen etwas machte, was man mit Computern nicht machte, denn dafür waren sie seinerzeit noch definitiv zu groß und zu teuer. Schließlich befinden wir uns in einer Zeit, in der noch nicht mal sicher war, ob so etwas wie Textverarbeitung eine sinnvolle Anwendung ist. Ob man die damals noch als »Elektronengehirne« wahrgenommenen Maschinen mit dem Verfassen von Liebesromanen, Geschäftsbriefen oder wissenschaftlichen Aufsätzen so grenzenlos unterfordern dürfe, war in den frühen 60ern noch eine brisante und neue Frage, die die 50er noch eindeutig mit »Nein« beantworteten. Im Jahrzehnt des »Ersatzphantasmas« [Pflüger] schien festzustehen, daß es nur darum gehen könne, den Menschen von niederen geistigen Tätigkeiten zu erlösen und ins Reich der Freiheit zu führen. So zumindest der Titel einer Serie namens Freeing the Mind über neueste Computerentwicklungen im Times Literary Supplement Mitte der 50er. »It is the current aim«, schrieb die Computer-Pionierin Grace Hopper 1952, »to replace, as far as possible, the human brain by an electronic digital computer.«
In den 60er Jahren schon sah man das etwas anders. Neben dem Automatisierungs-Mainstream entstand die alternative Vorstellung einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Mensch und Maschine, in der der Mensch nicht ersetzt, sondern von der Maschine unterstützt wird. In der Interaktion könne – so die Symbiose- und Augmentierungs-Theorien von Joseph Licklider oder Douglas Engelbart – der Mensch kreativer denken und sich computerunterstützt zu ungeahnten Höhenflügen aufschwingen. Die Performanz postmoderner Gesellschaften (um mit Lyotard zu sprechen) erweist sich in der konkreten performance zwischen Mensch und Maschine. Damit verbunden ist nicht nur die
Gestaltung konkreter Interfaces, an denen diese Partnerschaft stattfindet und die die medientechnische Möglichkeitsbedingung der Lyotardschen Sprachspiele darstellen, sondern auch die Evaluation verschiedenster Aufgaben, an denen sie sich erweisen soll. Es ist die Phase der (wenn man so will) »Zivilisierung« des Rechners, einer neuen Sinngebung, in der Textverarbeitungen, Flugbuchungssysteme, CAD-Programme oder elektronische Musik ihre Grenzen und Möglichkeiten evaluieren.
Zu dieser Zeit erschien – und damit komme ich auf Spacewar zurück – der Hacker. Er erschien an den Grenzen dessen, was erlaubt und unerlaubt, sinnvoll und sinnlos, sichtbar und unsichtbar sein sollte, um genau diese Grenzen zu explorieren und immer aufs Neue zu problematisieren und zu verschieben. Der Hacker war weder ein genügsamer »Benutzer« (eine Kategorie, die ja gerade erst erfunden wurde), noch war er unbedingt ein geschulter Techniker oder Programmierer. Der Hacker war vielmehr respektlos gegenüber den willkürlichen Vorschriften von Programmen, Systemverwaltern oder Nutzungskontexten. Die Autorität, die seine Basteleien legitimierte und begrenzte, war nur die konkrete Technik selbst, die Materialität von Geräten und ihren Leistungsgrenzen.
Dabei interveniert der Hacker zumeist von der Position des Außenseiters aus. Diese besondere Position ist es, die ihm eine schillernde und zukunftsträchtige Welt erscheinen läßt, die aber nur er erkennen kann. Die frühen Hacker nehmen eher die Rolle des Enthusiasten (oder Dilettanten, im Burckhardtschen Sinne) ein, der aus Begeisterung und Liebe weiß, wie die Dinge besser sein könnten. Der Hacker als intimer Bewunderer der neuen Technologien weiß um ihr Potential, und darf schon deshalb nicht an Kriterien wie akademischer Reputation, Alter oder Geschlecht gemessen werden. Seine Strategie lief auf Figuren der Umkehrung herrschender Ideologie heraus, in dem die etablierten Besetzungen des Computers verkehrt werden (z.B. ›friendly‹ versus ›kalt‹, ›community‹ statt Arkanwissen, Dezentralisierung statt mainframes; Überschuß statt Effektivität; menschlich statt unmenschlich usw.). Es sind symbolische Inversionen, die seinen technischen Umwidmungen entsprechen.
In (zumindest teilweise) Brechtscher Tradition ging es darum, der prinzipiellen Freiheit und Eigensinnigkeit der neuen Technologie zu einer noch unausgemachten Zahl von Spielen auch die entsprechende Freiheit ihrer Benutzer gegenüberzustellen, alle diese (Sprach)Spiele spielen zu dürfen. Es ging um eine Form der Erschließung von Möglichkeiten, die in der »unbestellten« Technik latent vorhanden sind, aber eben nicht genutzt werden, und nur mit hinreichender technischer Kompetenz realisierbar sind. Der Unterschied zu Brecht ist nur, daß es keine einfache »Umfunktionierung« wie beim Radio gibt (also eine UmDrehung), sondern der Computer eine universelle Maschine ist, die alle möglichen Spiele spielen kann und spielt. Auch Textverarbeitungen oder Tabellenkalkulationen. Dadurch bekam der Hacker auch einen sozialutopischen Impetus und eine politisch-pädagogische Mission. Das Volk der Computerbenutzer mußte gewissermaßen aufgeklärt werden, um seine Geschicke selbst in die Hand nehmen zu können. Denn Freiheit erfährt der User nur dort, wo er spielt, d.h. selbst programmiert, statt fremden Programmen zu folgen. Wer nicht mit seinen Geräten spielt, sondern sie zu ›trivialen‹ Maschinen degradiert, hat einen unzureichenden Begriff seiner Tätigkeit und wird zum Objekt einer Pädagogisierung.
Spiele wie Spacewar galten im Sinne der Hacker-Ethik als prominente Beispiele einer Aneignung von Hardware gewordener Verwaltungstechnik an den Schaltstellen der Macht, als politische motivierte Ent- und Verwendung des Computers, als Demokratisierung von Akranwissen und nicht zuletzt als ästhetisches Experiment in und mit einem neuen Medium. Sie bedeuten einen »administrative headache«, wie Stewart Brand 1972 im Rolling Stone kommentierte: »Es [Spacewar] war das uneheliche Kind aus der Verbindung von Computern und Grafikdisplays. Es war nicht Teil eines großen Plans von irgendjemand. Es diente keiner anspruchsvollen Theorie. […] In jenen Zeiten des Batch-Processing und des passiven Konsumismus […] war Spacewar eine Häresie, nicht bestellt und unwillkommen. Die Hacker haben Spacewar gemacht, nicht die Planer. […] Es diente in erster Linie als Kommunikationsinstrument zwischen Menschen. […] Es erfüllte menschliche Bedürfnisse, nicht die von Maschinen. […] Spacewar dient dem Weltfrieden. Wie überhaupt alles schicke Herumspielen mit Computern und jede Beschäftigung mit Computern zu unseren ureigenen Zwecken«. Und gleich darauf folgt ein Abschnitt, der beschreibt, wie Computer der Zukunft aussehen werden, die demnächst in jedem Haushalt zu finden sein sollen.
Von hier aus lohnt es sich nun, die Entstehungsgeschichte von PONG zu betrachten, die genau an diesen Punkt zurückführen wird.

Zweitens
Ziemlich genau zehn Jahre nach Spacewar wurden Computerspiele erfunden wie meine Generation sie kennenlernte: als zugeschweißte Konsolen, die im Verlauf der 70er weltweit millionenfach in die Haushalte einzogen. Aber sie wurden weder als politischer Akt, noch als Appropriation Art, noch gar als Hoffnungsträger einer computer literacy wahrgenommen, noch erkannte man in ihnen irgendein utopisches Potential zur Rettung des Weltfriedens. Sie waren »Zeug«, Spiel-Zeug, im banalsten Sinne. Der Grund, und das ist meine erste These, liegt im kleinen aber entscheidenden Unterschied zwischen Videospiel und Computerspiel. Zwar gab es, wie gesagt, schon in den 1950ern experimentelles Bildschirmtennis zu sehen, aber um 1970 wurde es noch zweimal erfunden – und zwar einmal als Videospiel und einmal als Computerspiel, aber leider in keinem der beiden Fälle aus dem Geiste der Hacker.
Für Ralph Baer (Jahrgang 1922), den ersten Erfinder, waren die gesammelten Demos und Hacks nämlich noch gar keine Videospiele – wohlgemerkt mit der Betonung auf dem Wort Video. Baer, 1938 als jüdischer Deutscher ohne Schulabschluß emigriert, wurde im Krieg zum Fernmeldetechniker ausgebildet und erwarb anschließend am American Television Institute of Technology in Chicago einen BA in »Television Engineering«, bevor er ab 1955 eine dreißigjährige Laufbahn als Chefingenieur bei einem Rüstungslieferanten begann. Baer war also ein arrivierter Ingenieur, der wohl kaum unter die Kategorie »Hacker« fiel. Aus seiner Biogrphie resultierte nicht nur eine profunde
Kenntnis analoger Signalverarbeitung und eine genaue Vorstellung davon, was gelingende (technische) Kommunikation ist, sondern vor allem die unumstößliche Überzeugung, daß Spiele mehr mit (tele)vision als mit computing zu tun haben. In seinen Erinnerungen ist Baer eindeutig: Was die Truppe um Spacewar zustande gebracht habe, sei zwar ein Computerspiel, aber noch kein Videospiel. Denn ein Videospiel sei nur, was jedermann auf einem normalen Fernseher spielen könne, was denn auch Baers entscheidendes Patent ausmachte. In eben diesem Sinne machte sich Baer daran, in den späten 60er Jahren mit der Kopplung elektronischer Bildgeneratoren und handelsüblicher Fernseher zu experimentieren, und das hieß, nach dem Computerspiel erst einmal das Videospiel zu erfinden. Dabei erkaufte er sich seine Forschungsgelder mit dem Versprechen, billigere und effektivere militärische Trainingsgeräte herstellen zu können, woran man schon den ganzen Unterschied zu den gegenkulturellen Hackern ablesen mag. Demgemäß fällt auch in der 1971 niedergelegten Patentschrift nie das Wort »Computer«, weil sein Spiel einfach kein Computer ist, sondern eine hybride Schaltung analoger und digitaler Komponenten von etwa je 40 Dioden und Transistoren und den dazu gehörigen Widerständen und Kondensatoren ohne Mikroprozessor und ohne Speicher. Genau genommen spielt man bei der Odyssey-Konsole [img.] des Fernsehtechnikers Baer mit Testbildgeneratoren aus der Fernsehbranche, die passenderweise auch den Vertrieb übernahm. Das war nun alles andere als die von Stewart Brand propagierte »Beschäftigung mit Computern zu unseren ureigensten Zwecken« und genau jener »passive Konsumismus«, gegen den es einst vorzugehen galt.
Auf der anderen Seite, bei Atari nämlich, sieht es auch nicht viel besser aus. Dessen Gründer Nolan Bushnell – immer wieder (und trotz eines in zwei Instanzen verlorenen Copyright-Verfahrens) als Erfinder des Computerspiels apostrophiert – entstammte einer anderen Generation und einem anderen Kontext als Ralph Baer. Der 20 Jahre jüngere Bushnell gehörte weder der Kriegsgeneration an, noch kam er aus dem Umfeld der Fernmeldetechnik. Vielmehr war er in jene erste Studentengeneration geboren, die Zugang zu Computern hatte, die sie nicht mehr selbst konstruiert hatten, sondern als »User« im heutigen Sinne benutzen durften. So hatte Bushnell an der University of Utah bei David C. Evans und Ivan Sutherland studiert, den Gründern der Evans & Sutherland Computer Corporation in Salt Lake City, von denen der eine ein Pionier im Bereich von Computergrafik und Timesharing, der andere im Bereich der graphischen Interfaces war.
Bushnell hatte als Student Spacewar gespielt und nach dem Studium begonnen, in seiner Freizeit einen kommerziellen Nachbau herzustellen, der von mäßigem Erfolg gekrönt war, aber immerhin gelehrt hatte, was es bedeutet, Spiele herzustellen, die nicht mehr in Rechenzentren, sondern in Flughäfen, Bars oder Spielsalons zu spielen sind. Als Bushnell sich dann im Mai 1972 am Marina Airport in Burlingame, CA, ins Gästebuch einer Präsentation der Odyssey eintrug, liefen anscheinend verschiedene Fäden zusammen, denn kaum einen Monat später wurde Atari gegründet. Der Clou der Sache ist, daß Bushnell das Tennisspiel noch einmal erfand, diesmal aber auf der Basis von Computertechnik. Sein legendäres PONG ist keine Ansammlung von analogen Testbildgeneratoren, sondern ein digitaler Rechner – und das aus gutem Grund. Nur als digitale Maschine nämlich kann er Punktestände zählen, die wiederum sind nötig, damit das Spiel nicht ewig dauert, sondern der nächste Spiel-Kunde seine Münze einwerfen muß. Was herauskommt, ist also ein Computer, der so tut und so aussieht, als sei er ein Videospiel! Dem phänomenologischen Blick mag das egal sein, dem technikhistorischen keinesfalls. Der millionenfache Erfolg, mit dem PONG als Spielkonsole die Wohnzimmer eroberte, bedeutet eine Digitalisierung, die nicht als solche bemerkt wurde und auch nicht werden konnte. Denn der Computer ist eingegossen in verschiedenförmiges Plastik und auf eine einzige Option beschnitten: das Spielen von PONG und später noch einiger anderer Spiele. Und er gibt sich nicht als Computer zu erkennen, sondern erscheint als Mimikri eines Videospiels. Die Frankfurter Schule nannte so etwas zur gleichen Zeit »Phantasmagorie«, d.h. die Verdeckung der Produktionsmittel durchs Produkt.
Damit sind wir sind wieder dort angelangt, wo wir eben abgeschweift sind: beim technopolitischen Programm der Hacker.

Drittens
Zum Hacker-Programm gehörte die Überzeugung, daß der User Freiheit nur dort erfährt, wo er spielt, d.h. selbst programmiert, statt fremden Programmen zu folgen. Dafür gaben die Umwidmungen und Verwendungen der Hacker ein Beispiel. Der entscheidende Kick liegt jedoch nicht bei Brecht oder den détournements der Situationisten, sondern im Begriff des »Mediums«. Ende der 60er Jahre wird der Rechner von der Generation der Hacker nicht mehr als »Elektronengehirn«, »Denkmaschine« oder als riesiger Kalkulator begriffen, sondern als Medium. Ganz entscheidend ist dabei die Lektüre der Schriften Marshall McLuhans. Allerdings sollte man nicht unterschätzen, daß McLuhans Theoriedesign selbst schon einer Vorgeschichte der Kybernetik und der Computertechnik geschuldet ist, denn McLuhan hatte natürlich Norbert Wiener gelesen. Um es noch deutlicher zu sagen:
McLuhans medientheoretische Diagnose des Computerzeitalters wird von Leuten gelesen, die tatsächlich mit Computern zu tun haben und die dabei merken, daß sie es dabei ja mit Medien zu tun haben. So etwa wie Molières Monsieur Jourdain plötzlich feststellt, daß er immer schon Prosa gesprochen hat.
So sind es die Basteleien der 60er, zu denen Spiele wie Spacewar essentiell gehörten, die zu jenen pädagogischen, politischen und ästhetischen Ambitionen führen, in deren Reichweite sich dann die verschiedensten Projekte von Home-, Personal- oder Volks-Computern bündelten. Gundolf Freyermuth brachte das vor einigen Jahren auf die Diagnose einer »Techno-Boheme […] zwischen technischer Bastelei und messianischer Agitation, die von der neuen Technik nichts weniger als die Veränderung der Welt erwartete«. Nachdem die Computerspiele (wie gezeigt) schon früh produktförmig geschlossen geworden waren, verlegte man sich auf »richtige«, »offene«, aber kleine Computer. Daß die Industrie an solche »Privatmaschinen« nicht gedacht hatte, ist nur Teil ihres Gründermythos. Die banalere Erklärung ist, daß man sich dort schlichtweg keine sinnvolle Anwendung vorstellen konnte. Was soll man zu Hause mit dem Ding? Die Strom rechnung hochtreiben? Die Plattesammlung sortieren? Kochrezepte Speichern? Ken Olsens oft aus der Siegerperspektive belächelter Satz »There is no reason for any individual to have a computer in their home« ist historisch allemal einleuchtend. Denn bevor und damit man eben doch mit selbst geschriebenen BASIC-Programmen Plattensammlungen verwalten oder Labels für Musikcassetten mit dem Nadeldrucker produzieren konnte, war eine ganz andere, viel weiträumigere Legitimationsstrategie nötig. Nicht einzelne, scheinbar disproportionierte oder gar sinnlose Anwendungen, wie sie die Industrie wohl im Blick hatte, sprachen für den PC, sondern daß er eben ein Medium sei – mit allen (oft vagen aber weitreichenden) Konsequenzen, die dieses Konzept nach McLuhan hatte. Drei Beispiele mögen die Lage charakterisieren.
1. Ted Nelson, von Haus aus Philosoph (BA) und Soziologe (MA) und fest im Milieu der kalifornischen Counterculture der Früh-70er, hatte 1974 seine manifestöse Doppelpublikation Dream Machines/Computer Lib veröffentlicht, von der etwa 50.000 Kopien verkauft wurden. Während der eine Teil eine Informationsutopie vernetzten Wissens entwarf, war der andere Teil ein politisches Manifest, das mit geballter Faust zur Befreiung aufrief: »You can and must understand computers NOW.« Es sind Bildungs fragen, an denen sich die Zukunft des Computers und damit die Zukunft der Gesellschaft entscheidet. Denn für Nelson gilt, daß der Mensch »von Gott aus« interessiert ist und erst durch Erziehung in »krimi-neller« Weise verdorben wird: »The human mind is born free, yet everywhere it is in chains«, setzt Nelson mit Rousseau an. »The educational system serves mainly to destroy for most people, in varying degrees, intelligence, curiosity, enthusiasm, and intel lectual initiative and self-confidence. […] Everything is interesting, until ruined for us. Nothing in the universe is intrinsically uninteresting. Schooling systematically ruins things for us […] There are no ›subjects‹. The division of the universe into ›subjects‹ for teaching is a matter of tradition and administrative convenience. […] There is no natural or necessary order of learning. Teaching sequences are arbitrary, explanatory hierarchies philosophically spurious. […] Anyone retaining his natural mental facilities can learn anything practically on his own, given encouragement and resources.« [img.]
Und genau hier liegt das utopische Einsatzgebiet des Computers: »today, at this moment, we can and must design the media, design the molecules of our new water«, schreibt Nelson, was ein unverschleiertes McLuhan-Zitat ist. Und weiter: »Computers offer us the first real chance to let the human mind grow to its full potential«. Es geht also beim Personal-Computer keinesfalls um Fragen der Ausbildung, der Herstellung von »Professionisten«, wie es bei Herder heißt, sondern um einen ganz emphatischen Bildungsbegriff, um die Entfaltung des menschlichen Individuums selbst, das an eine medientechnischen Instanz verwiesen wird – den heimischen Rechner. Dazu muß es – so Nelson – wiederum möglich sein, mit dem Computer zu spielen, d.h. beispielsweise eigene Wege durch Datenbestände zu erforschen. Und dabei spielen graphische Oberflächen, Sound und Animation eine ganz entscheidende Rolle: »Rigid and inhuman computer systems are the creation of rigid and inhuman people. […] Knowledge, understanding and freedom can all be advanced by the promotion and deployment of computer display consoles. « Die enorme Betonung graphischer Displays verweist darauf, daß die Computer-Bildung in weiten Teilen eine ästhetische ist oder sein soll. Es ist ein formales und zugleich anschauliches Denken, das sich im Experiment entfalten soll. Denn das antiautoritäre Ideal ist (ganz der autodidaktischen Hacker-Logik folgend) das Spiel, der Selbstunterricht und die gegenseitige Hilfe in der ›community‹: »teacherless learning exists in our society«. Daß die technische Wirklichkeit anders aussah –der Intel 4004 als erster Microprozessor war gerade 1971 erschienen–, störte nicht wirklich: »The technicalities matter a lot, but the unifying vision matters more«.
2. Seymour Papert, von Haus aus Mathematiker, dann bis 1963 Mitarbeiter von Jean Piaget und anschließend von Marvin Minsky, sollte solche Ansätze in seinem Bestseller Mindstorms auf ein Bildungsprogramm des Computerzeitalters zuspitzen. Kinder, so Paperts bei Montessori gekapertes Argument, bauen ihre intellektuellen Strukturen selbst auf, aber sie tun dies im Prozeß einer Aneignug von Material, das materiell wie metaphorisch von der jeweiligen Kultur bestimmt ist. Beim Übergang von pre-computer cultures zu computer cultures geschehe nun ein qualitativer Bruch, denn der Computer sei nicht einfach Werkzeug oder Material wie andere, sondern ein Medium und noch dazu ein besonderes. Der Computer unterläuft nämlich Piagets Unterscheidung zwischen »konkretem Denken» (ab 6) und »formalem Denken« (ab 12). Computer konkretisieren das Formale und formalisieren zugleich das Konkrete und dekonstruieren damit diese Differenz. Der zentrale Punkt ist hier das Machen oder näherhin das Programmieren als Tätigkeit, die weder rein theoretisch noch rein praktisch ist, sondern beides. Das Kind (so Papert), das einen Computer für Aufgaben programmiert, unterrichtet den Computer und lernt dabei selber denken. Und zwar ein Denken, das ununterbrochen zwischen formalem und konkretem Denken oszilliert. Der Computer ist ein »object to think with« (416). Und nochmal, in einer kybernetischen Schleife: es gehe um »thinking about thinking« und deshalb nicht um Lernen von Stoff, sondern um Epistemologien. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um prozedurales Denken, oder um selbstbezügliches debugging bis eine Sache funktioniert. Diese Frage der Bildung, die auf Heim- und Schulcomputer, informatische Früherziehung, Auflösung der Curricula usw. hinausläuft, ist eine eminent politische, die aber nur technisch und ästhetisch verhandelt werden kann und muß.
3. Lee Felsenstein, im studentisch bewegten Berkeley ausgebildeter Elektrotechniker, war nicht nur Ingenieur, sondern auch Anhänger der Free Speech-Bewegung und Mitorganisator des Community Memory-Projekts, das den Computer aus den Rechenzentren und Forschungsinstituten zu befreien suchte. In seiner technokulturellen Utopie sollte schon die Aufstellung einfach zu benutzender Terminals im öffentlichen und privaten Raum eine kommunikative und zugleich soziale Revolution auslösen. Datenübertragung galt als Guerilla-Instrument gegen Bürokratie und Zentralismus, und es war Felsenstein, der die Hard- und Software für das erste öffentliche und freie BBS (Bulletin Broadcast System) entwarf. Doch die Sache sollte noch weiter gehen.
Unter dem Schlagwort »computer power to the people« forderte er Dezentralisierung und Unabhängigkeit von Konzernen, Bildung und neue Kommunikationsmöglichkeiten, freie Information und direkte Demokratie: »We didn’t have many things you take for granted today, but we did have a feeling of excitement and adventure. A feeling that we were the pioneers in a new era in which small computers would free everyone from much of the drudgery of everyday life. A feeling that we were secretly taking control of information and power jealously guarded by the Fortune 500 owners […]. A feeling that the world would never be the same once ›hobby computers‹ really caught on.« Die entscheidende, gewissermaßen katalytische Wendung bekommt dieses Projekt nun schlicht und einfach dadurch, daß auch Felsenstein 1973 den Fernseher entdeckt. Und wir erinnern uns, daß dies genau der Moment war, in dem sich Odyssey und PONG als Spiele an den Fernseher angeschlossen hatten. Nur daß Felsenstein weder einen militärischen noch einen kommerziellen Hintergrund hat, sondern einen medienpolitisch/medienpädagogischen. »The promise of ›inverting the media‹, of controlling the display of ones’ own TV set, especially through a sacred-cow technology like digital computer electronics [!], was hard to resist.« (Und wir bemerken, daß hier sehr genau zwischen Display und digitalem Computer unterschieden wird.) Der Fernseher müßte, dank seiner millionenfachen Verbreitung nur noch an private Rechner ›angeschlossen‹ werden, um der Utopie einer informierten, mündigen und computerliteraten Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu müßten aber die »gezähmten Produktionsmittel«, wie Hans-Magnus Enzensberger es 1970 nannte (d.h. Odyssey, PONG usw.) durch »schmutzige« (d.h. ›echte‹ Computer) ersetzt werden, die wiederum nicht in einer von der Industrie geförderten »Bastelei« enden dürften, sondern sich aus der ›community‹ heraus entwickeln müßten.
Die Beispiele sind bekannt, wie etwa der im Januar 1975 veröffentlichte Altair Rechner [img.], dessen Vorstellung in Popular Electronics mit den Worten beginnt: »The era of the computer in every home […] has arrived!« Er war wohlgemerkt nicht an den Fernseher anschließbar, anders als der im Februar 1976 vorgestellte Sol-Rechners [img.] von Lee Felsenstein und Robert Marsh. Der Sol liegt irgendwo zwischen den Homecomputer und PC der 1980er: ein kompaktes Gehäuse mit Schreibmaschinentastatur, fünf Steckplätze für Erweiterungskarten, ein BASIC-Interpreter, ein Cassetten-recorder zum Speichern und der Anschluß für den Fernseher. Bei einer Präsentation des Sol in der Fernsehshow Tomorrow wurden bezeichnenderweise zwei Anwendungen gezeigt: ein Spiel namens Target und eine Textverarbeitung namens Electric Pencil. Und zuletzt natürlich der Apple, vorgestellt im Juli 1976 und für $666,66 als Bausatz erhältlich. Wiederum von zwei Hackern hergestellt, deren Arbeitgeber Atari und Hewlett Packard keinen Sinn in privaten Computern sahen. Damit geht aber schon die »epistemische Phase« des Personal Computing zu Ende. Man weiß gewissermaßen, was man da zu Hause hat und hat es ja zugleich auch schon auf dem Arbeitsplatz. Die ideologiekritischen Hoffnungen der PC-Bewegung, wie z.B. »that technology would allow […]
humanity to escape history, to rise above its corruptions of poverty, ignorance, scarcity, and injustice« oder daß der PC ein Medium sei, »[to] equalize opportunity for all races, creeds, minority groups, social classes«, geraten selbst zur größten Ideologie der neuen Wachstumsbranche.
Es steht zu vermuten, daß es die frühen kommerziellen Computerspiele waren, die vormachten, wie man aus einer Bastelei eine Ware machen kann – d.h. aus einem offenen Spiel ein geschlossenes Spielzeug und aus etwas Programmierbarem etwas Programmiertes. Das hat beim PC zum Glück nicht so ganz geklappt, auch wenn die oft beschworene computer litteracy etwas anders ausgefallen ist, als die Vordenker des »Computers als Medium« es sich gedacht hatten. Und man konnte in den letzten Jahren den Eindruck gewinnen, daß auch die Computerspiele sich wieder dem Spiel öffnen, statt nur durchgespielt zu werden. Machinima, games art oder homebrew games sind vielleicht beispielhafte Erscheinungen, die auf etwas verweisen, das einmal von den Spielen ausging und in die PC-Bewegung einfloss. Wenn der Umstand bezeichnend ist, daß Computerspiele gleich zu Beginn so taten, als seien sie nur unabänderliche Videospiele, dann ist es möglicherweise genauso bezeichnend, daß heute mehr und mehr ihre Veränderbarkeit als Computerspiel in den Blick gerät. Und die ist allemal spannender und brisanter als jede »Killerspiel«-Diskussion.

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Literatur
-Gundolf S. Freyermuth, »Die Geburt des PC aus dem Geiste des Protests. Eine kleine Kulturgeschichte«, in: c’t, 24(2003), S. 270-276
-Michael Friedeweald, Der Computer als Werkzeug und Medium. Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, Berlin 1999
-Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, Düsseldorf 1968
-Ted Nelson, Computer Lib/Dream Machines, South Bend 1974
-Seymour Papert, Mindstorms. Kinder, Computer und neues Lernen, Basel 1993
-Claus Pias, »Die Pflichten des Spielers. Der User als Gestalt der -Anschlüsse«, in: Hyperkult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, hrsg. von M. Warnke/G.C. Tholen/W. Coy, Bielefeld 2004, S. 313-342
-Norbert Wiener, Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft, Frankfurt a.M./Berlin 1952